Auch wenn es wirkte, als hätte ich zwischendurch aufgegeben, habe ich mein Projekt kein bisschen vergessen. Immer wieder habe ich versucht, die Zeichen der Zeit zu lesen. Sie zu verstehen und alle mir gegebenen Möglichkeiten zu nutzen.
Wenn ich zurückdenke, spüre ich die Wut und Enttäuschung als wäre es erst gestern gewesen.
Klar schweben die Worte der Mail eines Kinderbuchverlages vor mir: „Es ist leider als Nischenprodukt zu betrachten.“
Logisch, dass mich das wurmte.
Außerdem, wäre mein Buch in erster Linie ein Kinderbuch, wie mir plump gemailt wurde – und wer braucht das schon?!
Doch so simpel ist es nicht. Denn es soll ein ganz besonderes sein. Eines, das Eltern unterstützt. Ehrlich gesagt, es würde ein Wimmelbildbuch werden. Bloß anders. In diesem wollte ich eine andere Art der Anwendung erklären, als es Mamas und Papas klassisch machen. Grundlage dafür sind die Entwicklungsdefizite meines eigenen Kindes. Eine reduzierte Konzentration, kombiniert mit einer verzögerten Sprachentwicklung. Den Late-Talker hatten wir uns bei einer Untersuchung ärztlich gesichert. Wieder ein Attribut, das uns kennzeichnet. Als wären wir schlechte Eltern. Eine einfache Untersuchung, die mich in die Tränen trieb.
Daher mussten wir etwas tun. Und das taten wir.
Wir nutzten einfache Aspekte, die wir in den Logopädie- und Ergotherapieterminen lernten. Besonders ich war gefordert, mich zurückzunehmen. Meine gesprochenen Sätze auf ein Minimum verkürzen, eine einfache Sprache verwenden, auf Sprechpausen achten und die gleichen Worte in den gleichen Situationen benutzen.
In einem Fall wie unserem, wird den Eltern geraten, viel vorzulesen. Es soll die Sprache fördern. Klappte jedoch nicht, weil unser Kind sich zu wenig konzentrieren konnte. Immerhin sah er sich ein bestimmtes Wimmelbildbuch an. Wenn auch nur für knapp eine Minute.
Darüber entwickelte sich spontan eine Idee. Anstatt weit ausgeschmückte Geschichten zu erzählen, beschränkte ich mich auf ein- bis zwei-Wort-Sätze oder nutzte Ausrufe, manchmal bloß Gestik: Auf einer Doppelseite war ein Cowboy abgebildet. Ich tippte auf ihn, rief „Cowboy! Jiihaa!“ und machte eine Lasso-Werf-Bewegung. Sofort war mir die kleinkindliche Aufmerksamkeit sicher. Des Lernens wegen wiederholte ich es. Nach wie vor sahen mich kleine Kulleraugen neugierig an. Selten erlebte ich einen dermaßen intensiven Blick. Pure Gänsehaut.
Anschließend zeigte ich auf einen Mann, der an einem Hotdogstand Essen bestellte. Ihm legte ich die Worte „`n Hotdog, bitte.“ in den Mund.
Eine wütend aussehende Frau dagegen, ließ ich lebendig werden, indem ich selbst in gespielter Wut auf dem Boden aufstampfte und ein Knurrgeräusch von mir gab.
Innerhalb kürzester Zeit hatte das Kleinkind verstanden, dass es nur auf eine Person tippen musste, damit ich mein Entertainment-Programm startete.
Selbst meinem Göttergatten gefiel es, sodass er sich ebenfalls Äußerungen und Gestiken ausdachte. Nebenbei trainierte unser Programm die elterliche Merkfähigkeit.
Mein Mann und ich arbeiteten als Team, erlebten gemeinsam einen Höhenflug in der Förderung unseres eigenen Kindes. Wir hätten nicht glücklicher sein können.
Nach etwa zwei Wochen begann unser Kind, uns nachzuahmen. Lachend drückte es seinen Zeigefinger auf die wütende Frau und stampfte mit seinem rechten Fuß auf. Unser Durchbruch.
Tränen stiegen in meine Augen, während mein Herz vor Freude Purzelbäume schlug.
Irgendwann versuchte der kleine Mensch, unsere Worte zu wiederholen. Und nicht nur das: Die Zeit, die wir mit dem Buch verbrachten, steigerte sich von anfangs einer auf komplette zehn Minuten.
Weil mich dies so glücklich machte, erzählte ich tausend Menschen von unserem Training. Selbst die Krippe probierte es aus. Der Erfolg unter den Kindern stellte sich schnell ein.
Blöderweise kommt nach einem Höhenflug ein tiefer Fall.
Dieser trat ein, als ich beschloss, unser Übungsprogramm an den Mann und die Frau zu bringen.
Als Erstes schrieb ich die Autorin des Wimmelbildbuches an. Ihre niederschlagende Antwort lautete: „Sie haben eine tolle Idee. Leider kann ich Ihnen nicht helfen, sie umzusetzen. Außerdem sind Wimmelbildbücher sehr teuer in der Produktion.“ Der Samen der Enttäuschung war damit gesät. Nach weiteren ernüchternden Mails von Verlagen oder anderen Buchautoren ging er schließlich auf. Für seine Blüte sorgte ein Antwortmail eines therapeutischen Buchverlages: „Ebenso fehlt die fachliche Expertise, um ein derartiges Projekt realisieren zu können."
Dennoch – fand ich – sollte meiner Idee eine Chance eingeräumt werden, damit sich überhaupt Fachpersonen damit befassen können.
Jedes Wort, dass ich damals las, fraß sich in mich hinein. Ließ mich zittern.
Um meiner Enttäuschung, die allmählich in Wut überging, Raum zu geben, prügelte ich zuerst auf unser Sofa ein. Das leblose Teil blieb unbeeindruckt, was meine Gefühle verstärkte. Daher stampfte ich mit meinen Füßen auf dem Boden. Vergaß meine Umgebung, die gesamte Welt um mich herum.
Bis eine kleine niedliche Stimme zu mir durchdrang: „Mami, was machst du?“.
Blitzschnell schaltete mein Gehirn um, verleitete mich zu einer gelogenen Erklärung: „Ach, ich habe nur die wütende Frau aus deinem Wimmelbuch nachgemacht.“
Zum Glück gab sich das Kleinkindgehirn damit zufrieden. Ernüchtert sank ich auf das Sofa. Hatte ich es tatsächlich geschafft, mein eigenes Kind aus dem Schlaf zu reißen.
Die nächsten Monate kam ich mit meiner Kinderbuchidee in keiner Weise voran. Dafür ließen wir den Latetalker weit hinter uns. Inzwischen konnten wir komplette Buchseiten vorlesen, manchmal reichte die Aufmerksamkeit sogar für ein Pixi-Buch.
Des eigenen Frieden willens, schwächte ich meine Bemühungen bezüglich der Buchidee ab.
Monat um Monat verging, in denen mein Kind sein Sprachrepetoire aufbaute und erweiterte.
Wie der Zufall es wollte, trat ein ehemaliger Klassenkamerad in mein Leben. Mehr als zwölf Jahre hatte ich nichts über ihn gehört. Erfuhr von ihm, dass er kürzlich ein Kinderbuch veröffentlicht hat. Auf wunderschön bebilderten Seiten wurde der kindliche Leser in den Weltraum geschickt. Gespickt mit Übungen zu autogenem Training und progressiver Muskelrelaxation. Fachliche Expertise war bei ihm kein Problem, denn er verdiente sein Geld als Psychologe.
Gedankenfunken strömten aus meinem Gehirn. Zunächst schwer zu fassen. Schließlich konnte ich sie einfangen und ordnen.
Offensiv berichtete ich meinem damaligen Klassenkameraden von meiner Buchidee. Es stellte sich heraus, dass er seinen Schwerpunkt in der Bindung zwischen Kindern und Eltern hatte.
Eins kam ins andere. Er war bereit, meine Idee seinem Buchverlag vorzustellen.
Mal wieder zeigt mir mein Laptop eine neu eingetroffene Mail an. Neugierig öffne ich mein Mailprogramm: Er ist es. In der Betreffzeile steht „deine Buchidee“.
Kälte umarmt mich, lässt meine Muskeln zittern. Soll ich ernsthaft auf diese Nachricht klicken? Was ist, wenn ich wieder eine Absage erhalte? Will ich wirklich die alte Enttäuschung aufleben lassen?
Es könnte auch positiv sein, oder?
Selten habe ich mich dermaßen zögerlich verhalten. Als hinge mein eigenes Leben davon ab. Lächerlich! Ich habe einen festen Job, eine wunderbare Familie. Dieses Buch wäre nur die Krönung meiner Bemühungen. Eine Art Bestätigung für mich.
Tranceartig bewege ich meine Hand, klicke die E-Mail an, schließe sie schnell wieder, klappe den Laptop zu.
Mein Puls rast. Irgendwie stecke ich in einer Art Zwischenwelt. Solange ich die Mail ungelesen vor mir sehe, besteht Hoffnung, dass es zu einer Buchveröffentlichung kommt. Beginne ich zu lesen, ist es zu spät. Ist die Antwort negativ, gibt es kein Zurück mehr. Dann muss ich es anders versuchen. Aber habe ich dafür genug Kraft? Mein Konto ist bereits massig mit Enttäuschung gefüllt.
Wobei... genau das ist es ja. Ich bin schon enttäuscht! Es kann kaum schlimmer kommen. Mir bleibt nur die andere Seite. Das Glück, die Freude und der Aufschwung.
Okay, Laptop aus dem Standby holen, die Schicksalsmail öffnen.
Aufregung überfällt mich, lässt meine Augen über die Sätze fliegen. Keine Chance, den Inhalt zu erfassen. Daher stehe ich auf, mache mir einen „Salted Karamell Latte“ und zwinge meine Körperfunktionen zur Ruhe. Sobald mir meine Pulsuhr einen Wert von 65 anzeigt, widme ich mich wieder meinem Lappi. Die heißen Latte-Schlücke helfen mir, meine Konzentration zu fokussieren.
Diesmal kann ich das Geschriebene inhaltlich erfassen. Es lässt meine Mundwinkel zucken. Unkontrolliert gehen sie nach oben. Ein Grinsen befällt mein Gesicht. Und geht in hysterisches Gelächter über: Ich soll ein Konzept über meine Anwendungsidee für ein Wimmelbildbuch erstellen.
Basierend auf realen Erlebnissen