Es ist Nacht.

Sie schläft.

Ich liebe das ruhige Geräusch ihres Atems, das langsame Heben und Senken ihrer Brust. Sie schläft immer auf der Seite, schon als Kind hat sie das getan. Seit einigen Jahren läuft ihr im Schlaf etwas Spucke aus dem Mundwinkel. Sie ist jetzt einundvierzig Jahre, zwei Monate und vier Tage alt.

Vorsichtig streiche ich eine schwarze Strähne aus ihrem Gesicht, damit sie sie nicht einatmet. Ein zufriedenes Seufzen entfährt ihr, kaum hörbar.

Ihre Kleidung liegt sorgsam gefaltet auf einem Stuhl neben der Tür - so hat ihre Mutter es ihr beigebracht. Auch sie schlief immer auf der Seite. Früher war dies ihr Zimmer, aber nun ist sie fort.

Miriam war vor einem Jahr in ihr Elternhaus zurückgekehrt. Sie hatte viel verändert: Die Tapeten im gesamten Erdgeschoss, den Teppich, sie hat die Fenster austauschen lassen. Das Wohnzimmer ihrer Eltern war nun ein Büro. Aber ihr Schlafzimmer ließ sie fast unverändert. Ob sie meinetwegen in dieses Haus zurückgekehrt war?

Ihre Heimkehr war zu Beginn mit viel Trauer verbunden. Doch das Haus schenkte ihr Trost. Auch ich tröstete sie, so gut ich konnte. Wir hatten ihre Eltern beide sehr geliebt. Heidrun, ihre Mutter war eine strenge Frau gewesen. Sie hielt Ordnung wie kein zweiter Mensch, war immer geschäftig, bis in ihre letzten Jahre. Nach außen war sie oft sehr kühl. Doch das Leben hatte ihr schwer mitgespielt und in der Stille ihres Heims, wenn die Familie dem Tagesgeschäft nachging, vergoss sie häufig bittere Tränen. Nur sie und ich kannten den Grund. Nicht einmal ihrem lieben Mann hatte sie von den zahlreichen, frühen Fehlgeburten erzählt, die sie am Beginn ihrer Ehe verschmerzen musste. Sie machte alles ganz allein mit sich aus. Sie war jedem stets eine Stütze, nie eine Last. Und ihre einzige Tochter war so für sie, umso mehr, ein großes Wunder. Sie sehen einander sehr ähnlich.

Miriam ist schon bedeutend älter, als ihre Mutter es bei ihrer Hochzeit war, doch hat sie noch immer niemanden für sich gefunden. Ich weiß, dass sie verzweifelt auf der Suche ist. Sie telefoniert viel, sucht die Liebe am Computer, schreibt viele Nachrichten. Sie wird stets enttäuscht.

Aber ich bin hier. Ich bin für sie da.

Ein Klirren.

Miriam fährt hoch. Mit einem Mal sitzt sie aufrecht im Bett.

"Bist du das?" fragt sie mich verschlafen. Sie weiß, dass ich nicht antworten werde.

Das Geräusch von Scherben, die verschoben werden, dringt von unten zu uns. Sie steht auf, zieht ihre Hausschuhe an, die wie immer vor ihrem Bett stehen.

Sie öffnet die Tür und lugt durch den Spalt. Ein Luftzug bringt eine sanfte Bewegung in ihr Nachthemd. "Hab ich ein Fenster aufgelassen?"

Hast du nicht. Bleib hier.

Vorsichtig setzt sie einen Fuß auf den Flur, schleicht hinaus.

Sie friert mitten in der Bewegung ein, als die Treppe knarrt. Miriam weiß, dass es die dritte Stufe ist. Sie hatte früher oft einen großen Schritt über sie hinweg getan, wenn sie sich in jungen Jahren nachts ins Haus schlich. Sie hält den Atem an, als der Schein einer Taschenlampe erkennbar wird und eine Gestalt um die Ecke kommt, zielstrebig. Der Silhouette entfährt ein sarkastisches Lachen. „Hallo Miri! Wusste ich doch, dass ich hier richtig bin! Warst nicht leicht zu finden!“ Die Stimme klingt unfreundlich, falsch, sie passt mir nicht.

Sie stolpert rückwärts. „Jens? Scheiße, was? Was willst du hier? Scheiße…“

Ich beginne mich zu konzentrieren.

„HILFE!“ schreit Miriam. „SCHEISSE DU BIST HIER EINGEBROCHEN!? RAUS HIER, DU PSYCHO!“

„Unwahrscheinlich, dass dich jemand hört.“ ein widerliches, süffisantes Lächeln ziert seine Lippen. Er wedelt mit einer Rolle Klebeband. „Wir sind völlig ungestört.“

Ich habe meine Kraft fast beisammen.

Mit einem schnellen Ausfallschritt stürzt er auf sie zu. Sie weicht aus, stolpert, fällt auf den Boden und schlägt mit dem Kopf gegen den Türrahmen. Blut ist daran zu sehen. Mit geschlossenen Augen kommt sie zum Stillstand, liegt da, bewusstlos.

Er lacht. „Noch besser.“

Ich bin bereit.

Mit aller Gewalt reiße ich ein Loch in das dünne Tuch, das unsere Welten voneinander trennt und stoße hindurch. Sein Gesicht verzieht sich schlagartig zu einer Grimasse, wie ich sie seit fast zweihundert Jahren nicht gesehen habe.

Sein Verstand erfasst noch nicht, was sein Instinkt bereits begriffen hat, als ich mich vor ihm manifestiere. Schrecken und Terror übernehmen seine Mimik, vertreiben sämtliche Schadenfreude und Geilheit. Er ist vom Schock gelähmt, seine Atmung steht still. Langsam bewege ich mich auf ihn zu, wachse dabei, ziehe alle Wärme aus der Umgebung und wandele sie in genügend Kraft um, um mich ihm in jedem Detail zu zeigen, komme näher und näher, bis unsere Gesichter nur noch einen Finger breit auseinander sind. Er schwitzt, ist heiß, sein Herz rast. Wie mit einem Atemzug nehme ich so viel von seiner Hitze in mich auf wie ich kann und forme daraus ein Wort.

„Lauf.“

Er explodiert förmlich aus seiner Starre heraus, fällt hin, kriecht vorwärts, um an der Treppe wieder in eine Aufrechte Position zu kommen. Seine Angst fließt in mich, gibt mir noch mehr Kraft. Ich schreie.

„LAUF!“

Ich muss ihm nicht nachschauen. Er wird niemals wieder einen Fuß in unser Haus setzen. Das weiß ich.

Bevor meine Kraft wieder schwindet, wende ich mich zu Miriam. Die kleine Platzwunde blutet nicht mehr. Sicher hat sie eine leichte Gehirnerschütterung. Ich hebe sie auf, lege sie in ihr Bett, decke sie zu.

Ohne die Augen zu öffnen fragt sie erneut „Bist du das?“.

„Schlaf, Miriam. Du bist sicher, in der Nacht.“


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